Autismus bei Frauen und Mädchen

Das ist Mila. Mila ist sieben Jahre alt und kommt schon bald in die zweite Klasse. Sie ist ein unauffälliges Kind, das meist schüchtern am Rand steht und den Blick senkt, wenn man mit ihr spricht. In der Schule ist sie etwas langsam und wirkt manchmal auch ein bisschen abwesend. Mila fällt es schwer, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Sie beobachtet die anderen Kinder oft und ahmt dann ihr Verhalten nach. Wenn sie mit den anderen gemeinsam spielt, geht das in der Regel von anderen Kindern aus, die sie in ihr Spiel integrieren. Nur mit Hannah, ihrer besten Freundin, fällt es ihr leicht. Bei Hannah ist sie nicht schüchtern. Die beiden können stundenlang über ihr gemeinsames Hobby reden, denn beide Mädchen lieben Pferde.

Wenn man Mila fragt, was sie denn an Pferden alles mag, dann sprudeln die Informationen nur so aus dem sonst so stillen Mädchen. Egal, was man über Pferde wissen möchte, Mila weiß es. Sie kann alle Pferderassen mit detaillierter Beschreibung aufzählen und kennt die Namen berühmter Pferde auswendig. Ihr Zimmer ist voller Pferdebilder, die sie oft selbst gemalt halt. Bei anderen Themen ist Mila eher still.

Mila hat auch viele Puppen. Mit denen spielt sie besonders gerne Szenen nach, die sie zuvor erlebt hat. Dann erklärt sie ihren Puppen, warum sie jetzt etwas tun müssen, damit das Spiel weitergeht.

Mila ist zehn Jahre alt. Nach den Sommerferien soll sie auf eine weiterführende Schule gehen. Im Elterngespräch erzählt Milas Lehrerin, dass Mila noch immer sehr schüchtern ist. Manchmal scheint es ihr schwer zu fallen, die Aufgabenstellungen zu verstehen und sie braucht noch viel Unterstützung im Unterricht. Von sich aus zeigt sie sehr wenig Beteiligung und meldet sich nur in Ausnahmefällen. Dabei sei Mila doch ein kluges Mädchen, das über viel Wissen verfüge. Sie müsse sich nur mehr zutrauen und lernen, auf andere Kinder zuzugehen.

Kurz vor den Ferien erfährt Mila, dass Hannah auf eine andere Schule gehen wird und ihre Welt bricht zusammen.

Was niemand weiß: Mila ist autistisch.

Bereits Hans Asperger ging bei seinen Studien davon aus, dass Autismus ein rein männliches Phänomen sei. Bis heute werden Jungen bis zu viermal häufiger diagnostiziert als Mädchen, obwohl man inzwischen davon ausgeht, dass das Verhältnis sogar ausgewogen sein könnte.

Ein Grund hierfür könnte sein, dass die Diagnostik gezielt nach „männlichen“ Auffälligkeiten sucht. Während sich das Verhalten bei Überforderung bei Jungen oft nach außen hin zeigt, reagieren Mädchen oft eher passiv und verschließen sich in sich selbst. Das kann womöglich an den gesellschaftlichen Erwartungen liegen, die Kinder schon in jungen Jahren zu spüren bekommen. Mädchen sind still und schüchtern, Jungen wild und laut, so der Volksglaube. Abweichendes Verhalten wird sanktioniert.

„Ein Mädchen macht so etwas nicht.“ – „Ein Indianer spürt keinen Schmerz.“ Auch heute noch sind derartige Rollenbilder tief in unserer Gesellschaft verankert. Das hat Folgen auf das Verhalten von Kindern. Gerade Mädchen lernen sehr früh, sich zurückzunehmen, still zu sein und nach Möglichkeit nicht aufzufallen. Damit entwickeln autistische Mädchen schon früh Kompensationsstrategien, die sie angepasster erscheinen lassen als ihre männlichen Altersgenossen.

Mila ist sehr schüchtern und mag Pferde. Damit entspricht sie dem gesellschaftlichen Bild eines kleinen Mädchens. Dass hinter ihrer Schüchternheit Probleme im Bereich der sozialen Kompetenz stecken, ihr direkter Augenkontakt enormen Stress verursacht und sie ihr Hobby in einem Ausmaß betreibt, das weit über das normale Maß hinaus geht, wird übersehen. Auch Milas Spiel mit ihren Puppen ist anders. Sie lebt nicht ihre Fantasie aus, sondern analysiert das Sozialverhalten ihrer Umwelt. Sie beobachtet andere Kinder und lernt deren Verhaltensweisen auswendig. So gelingt es ihr, zumindest oberflächlich integriert zu wirken.

Auch ihre Beziehung zu ihrer besten Freundin ist typisch für autistische Mädchen. Die Freundin ist Bezugsperson, Sozialkontakt und oft Übersetzer in einem. Sie bildet die Brücke zur Welt der anderen, ihr kann sich Mila öffnen. Solche Beziehungen finden sich im Leben vieler weiblicher Autisten immer wieder und haben oft über Jahre hinweg Bestand. Der Verlust der Freundin wird als harter Einschnitt im Leben der Betroffenen empfunden und kann gerade bei Kindern wie Mila zum Zusammenbruch führen.

Da Mila in der Klasse nicht durch störendes Verhalten auffällt, gehen Lehrer und andere erwachsene Bezugspersonen davon aus, dass sich ihr Verhalten durch Schüchternheit erklären ließe. Sie ermutigen Mila zur Teilnahme am Unterricht oder stellen ihr Fragen, selbst wenn sie sich nicht zu Wort meldet, um ihr Mut zu machen und ihr die Teilnahme zu erleichtern. Für Mädchen wie Mila bedeutet dies konstanter Stress, der zu weiterem Rückzug in sich selbst führt und in ausgeprägten Fällen zum Mutismus führen kann, bei dem verbale Sprache gar nicht mehr möglich ist. Das gut gemeinte Verhalten der Lehrkräfte und Betreuer wirkt sich bei autistischen Mädchen oft ins Gegenteil verkehrt aus und verschlimmert die Lage weiter.

Bleibt Mila weiterhin unerkannt und ohne entsprechende Förderung, werden sich die Probleme in der weiterführenden Schule vervielfachen. Sie wird immer wieder Schwierigkeiten haben, sich in soziale Gefüge zu integrieren. Gerade in der Pubertät kann sich das negativ auf ihre Entwicklung auswirken und zu Einsamkeit und Mobbing führen. Da es Mila schon in der Grundschule schwer fällt, manche Aufgabenstellungen zu verstehen und sie generell eher langsam ist, wird sich das mit fortgeschrittenem Alter auch in ihren Schulnoten niederschlagen. Waren ihre Spezialinteressen in der Kindheit noch ihrem Alter und Geschlecht angemessen, wird sie erleben müssen, wie andere Mädchen neue Interessen entwickeln, wodurch die gemeinsame Basis nach und nach verloren geht.

Diese Probleme werden sich durch die Ausbildung bis hin ins Berufsleben fortsetzen. Der hektische Arbeitsalltag, der vielerorts herrscht und bei dem eine Vielzahl an Reizen und Anforderungen auf einen einprasseln, ist für Autisten eine nur schwer zu ertragende Herausforderung. Daraus entwickeln sich häufig Folgebeschwerden wie Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, Erschöpfung und Verzweiflung. Betroffene geraten immer wieder in die gleichen Muster. Es kommt zu Problemen am Arbeitsplatz und im Privatleben. Häufige Krankmeldungen und Kündigungen sind die Folge.

Begeben sich betroffene Frauen in Therapie, kommt es häufig zu Fehldiagnosen. Repetitive Verhaltensmuster werden als Zwangsstörungen gedeutet. Selbstverletzendes Verhalten wie Haare ausreißen wird als Borderline-Persönlichkeitsstörung erkannt. Die dauerhafte Reizüberflutung führt zu Konzentrationsproblemen, Gereiztheit, Anspannung und innerer Unruhe die als ADHS interpretiert werden. Aufgrund der hohen Kongruenz hinsichtlich der Symptome ist auch Schizophrenie immer wieder im Gespräch.

Ist eine solche Diagnose erst einmal gestellt, beginnt für viele ein über Jahre andauernder Kreislauf aus therapeutischen Maßnahmen, medikamentöser Behandlung und einer unerklärlichen Verschlechterung des Allgemeinzustands bis zum Therapieabbruch, dem wieder neue Diagnosen und damit weitere Behandlungsversuche folgen. Den Patientinnen wird bei ausbleibendem Behandlungserfolg vorgeworfen, unkooperativ und nicht behandelbar zu sein.

Da Autismus-Spektrum-Störungen in der Ausbildung der meisten Psychologen und Psychiater nur einen sehr geringen Anteil hat, kommt der Verdacht gerade bei Frauen nur selten von Fachpersonal. Und selbst, wenn der Verdacht einmal ausgesprochen wurde, finden sich auf dem Weg zur Diagnose weitere Hürden. Vorherige Diagnosen werden oft vorschnell und ohne Prüfung übernommen. Gerade die Vorstellung des männlichen Klischee-Autisten, wie er oft in Film und Fernsehen gezeigt und wie er auch in der Fachwelt lange Zeit gesehen wurde, macht es Frauen besonders schwer, mit ihren Problemen ernst genommen zu werden. Viele Diagnostikwerkzeuge wie Fragebögen sind speziell auf männliche Kinder ausgelegt, wodurch sie von erwachsenen Frauen oft nur unzureichend ausgefüllt werden können.

Obwohl es inzwischen Forschungen zum Thema „Autismus bei Frauen und Mädchen“ gibt, ist dies weiterhin eine Nische des bereits oft stiefmütterlich behandelten Gebiets „Autismus“. In Anbetracht der Tatsache, dass sich in den letzten hundert Jahren wiederholt gezeigt hat, wie sehr Autismus im Auftreten unterschätzt wird und wenn man bedenkt, dass inzwischen davon ausgegangen wird, dass Jungen und Mädchen durchaus gleich häufig betroffen sein können, bleibt für Mädchen wie Mila nur zu hoffen, dass hier mit der Zeit ein Wandel im Denken der Fachwelt und der Öffentlichkeit vollzogen sein wird, der es ihnen ermöglicht, bereits früh die Förderung und Anerkennung zu erhalten, die ihnen zusteht und die sie dringend benötigen.

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