Autismus und Epilepsie

Es existieren zahlreiche Komorbiditäten, die gemeinsam mit Autismus auftreten können. Besonders interessant ist hierbei Epilepsie. Überdurchschnittlich viele von Epilepsie betroffene Menschen sind gleichzeitig autistisch während auch unter Autisten Epilepsie merklich öfter anzutreffen ist als in der Durchschnittsbevölkerung, was mit zusätzlichen und sehr spezifischen Problematiken für Betroffene einher gehen kann. Diese Überschneidung legt die Vermutung nahe, dass Epilepsie und Autismus auf ähnliche neurale Mechanismen zurückzuführen sein könnten.

Die in Studien ermittelten Werte hinsichtlich dieser Überschneidung weisen einen großen Spielraum auf. Während manche Studien hinsichtlich des Auftretens von Epilepsie bei Autisten von einem Wert von unter zehn Prozent ausgehen, kommen andere Studien auf Werte bis zu 45 Prozent. Dies könnte in Zusammenhang mit der jeweils betrachteten Referenzgruppe stehen. Studien, die die Gesamtbevölkerung betrachten, enthalten meist niedrigere Prozentsätze als in Kliniken durchgeführte Studien. Auch bei unterschiedlichen Altersgruppen lassen sich Unterschiede feststellen. Epilepsie selbst tritt in der Bevölkerung mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,5 bis ein Prozent auf, bei ASS variiert die Prävalenz stark, wird jedoch meist im Bereich von 0,6 bis zwei Prozent verortet. Somit sind sich alle Studien einig, dass die Überschneidung an sich deutlich sichtbar ist, auch wenn die Werte stark voneinander abweichen.

Es gibt viele Ursachen für Epilepsie, von denen manche bekannt, andere jedoch noch nicht verstanden sind. Auffällig ist, dass viele von Epilepsie betroffene Menschen gerade auch in der Kindheit Symptome zeigen, die abgesehen von epileptischen Anfällen große Ähnlichkeiten zu den Symptomen einer Autismusspektumstörung zeigen. Betroffen sind hier vor allem die Bereiche Verhalten, Kommunikation und Intellekt. Diese Übereinstimmungen könnten kausal begründet (d.h., ein Syndrom wäre die Ursache des anderen) oder das Ergebnis zufälliger Überschneidung sein. Letztere These beruht auf der Annahme, dass ähnliche Vorgänge in der Entwicklung des Gehirns sowohl zu Epilepsie als auch zu ASS führen könnten, ohne dass beide Störungsbilder einander in ihrer Entwicklung beeinflussen.

Betrachtet man die übereinstimmenden Symptome im Detail, lassen sich auch Auffälligkeiten feststellen, die aus der Außenperspektive identisch zu sein scheinen, ohne die gleiche Ursache haben zu müssen. Während autistische Kinder zum Beispiel in einigen Fällen nicht auf Ansprache reagieren, kann das gleiche Verhalten bei Epileptikern auf einen Absence-Anfall zurückzuführen sein. Auch das Abwenden des Blickes, das bei Autismus mit der generellen Vermeidung von Augenkontakt in Zusammenhang steht kann bei Epilepsie durch einen fokalen Anfall ausgelöst werden. Auch zwischen Petit-Mal-Anfällen und autistischem Stimming ist optisch wenig Unterschied festzustellen. Rein anhand dieser Symptome ist es sehr schwer, zwischen singulär auftretendem Autismus und Epilepsie zu unterscheiden, weshalb EEGs (Messung der Hirnstromkurve) als gängige diagnostische Mittel sowohl in der Epilepsie- als auch in der Autismusdiagnostik Anwendung finden.

Während die Überschneidungen an sich empirisch belegbar sind, ist es sehr schwierig, konkrete Aussagen über den Zusammenhang zu treffen. Dies liegt an mehreren Faktoren. Sowohl ASS als auch Epilepsie sind sehr heterogene Phänomene mit einer Vielzahl an Ausprägungen und Begleiterscheinungen. Während vor allem im Bereich der Epilepsie vereinzelte Formen recht gut erforscht sind, fehlt es insgesamt an zuverlässigen Aussagen hinsichtlich vor allem der Entstehung von ASS und auch Epilepsie, um Thesen konkret belegen zu können. Da beide Phänomene für sich genommen bereits nicht klar isoliert betrachtbar sind sondern das komplette Leben und Erleben Betroffener beeinflussen, kann beides aus Sicht unterschiedlicher Wissenschaften erforscht werden, die oft nur schwer miteinander kombinierbar sind. Gerade auch bei ASS ist die Diagnostik vor allem symptomorientiert, was Ursachenforschung weiter erschwert.

Auffälligerweise scheinen ASS und Epilepsie häufig dann gemeinsam aufzutreten, wenn bereits Anfälle in früher Kindheit auftreten. Hier zeigen sich später oft große Defizite im Bereich der sozialen Kommunikation, während etwa zehn bis 15 Prozent der Betroffenen die Vorraussetzungen für eine Autismusdiagnose erfüllen. Weitere Risikofaktoren für das komorbide Auftreten von Autismus und Epilepsie sind Intelligenzminderung, weitere Entwicklungsstörungen, die Schwangerschaft und Geburt betreffende Faktoren sowie überraschenderweise das biologische Geschlecht. Studien zufolge ist das gemeinsame Auftreten beider Phänomene bei Frauen im Durchschnitt doppelt so häufig anzutreffen als bei Männern.

Während Epilepsie an sich heute bei frühzeitiger Erkennung auch in schweren Fällen gut behandelbar ist, kann das gemeinsame Auftreten mit ASS zu neuen Herausforderungen führen. Vor allem in der Kindheit kann Epilepsie die Entwicklung autistischer Kinder negativ beeinflussen. Gleichzeitig erhöht sich die Sterblichkeit Betroffener gegenüber Autisten ohne Epilepsie deutlich. Dies scheint jedoch in erster Linie schwere Ausprägungen der Epilepsie zu betreffen. Epilepsie scheint außerdem autistische Symptome zu verstärken, vor allem im Bereich sprachliche Entwicklung, soziale Verhaltensmuster und Anpassungsfähigkeit. Eine Studie stößt hier jedoch auch auf einen Zusammenhang zwischen der Ausprägung autistischer Symptome und IQ. Es ist also nicht sicher zu sagen, ob tatsächlich ein Zusammenhang zur jeweils vorliegenden Epilepsie besteht.

Aus wissenschaftlicher Sicht lassen sich neurologische Übereinstimmungen zwischen Epilepsie und Autismus sowohl im Bereich der Botenwege, der Gehirnaktivität, der Zellen/Synapsen und der Gene finden. Viele Gene, die bisher identifiziert werden konnten, stehen sowohl mit Autismus als auch mit Epilepsie in Zusammenhang. Insgesamt ist das Thema „Autismus und Epilepsie“ leider noch weit von einer zufriedenstellenden Aufklärung entfernt, was vor allem für Betroffene beider Phänomene problematisch ist, sowohl hinsichtlich der Diagnostik als auch hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten.

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