Interview: Mein Weg zur Diagnose

(Dieses Interview wurde mit einem Mitglied unserer Facebookgruppe “Spät diagnostizierter Autismus” geführt. Zum Schutz der Privatsphäre des/der Betroffenen erfolgt die Veröffentlichung anonym.)

SdA: Wie kam es dazu, dass Du die Diagnostik angegangen bist?

A: Mein dritter Sohn bekam im Alter von 5 Jahren die Diagnose “Autismus”. Da war mir zum ersten Mal klar, dass Autismus nicht nur das ist, was ich bisher aus dem Film Rain Man darüber wusste. Trotzdem vergingen ungefähr weitere vier Jahre, bis mir Ähnlichkeiten im Verhalten zwischen mir und meinem diagnostiziertem Sohn bewusst wurden. Sein Verhalten in vielen Situationen hat mich an mein eigenes in meiner Kindheit erinnert. Da habe ich mich zum ersten Mal gefragt, ob dies eventuell auch auf mich zutreffen könnte. Bisher hatte jeder meine privaten und beruflichen Probleme mit Depressionen gerechtfertigt, die sich durch schlechte Erfahrungen in der Kindheit entwickelt haben. Für mich war das nie der einzige mögliche Grund und ich hatte schon vor dem Verdacht auf Autismus nach Antworten gesucht und eine ADHS Diagnostik durchlaufen. Ich wurde zwar mit ADHS (ich glaube das war 2018) diagnostiziert, aber trotzdem hat vieles nicht gepasst. Also habe ich die Kinderpsychiaterin meines Sohnes gefragt, wo eine Autismusdiagnostik für Erwachsene möglich wäre. Sie zögerte und drückte mir eine Liste in die Hand und meinte, dass sie leider ansonsten keine Ahnung hätte. Sie zweifelte auch an meinem Verdacht, weil ich ihr beim Gespräch in die Augen sehen konnte, was ich mir mühselig in meiner Jugend aufgrund einer Aussage meines Vaters antrainiert hatte. Auf dieser Liste gab es nur eine Adresse, mit der ich etwas anfangen konnte.

SdA: Du hast dich also selbstständig in die Diagnostik begeben, richtig? Was war das Ergebnis?

Für meine erste Diagnostik kontaktierte ich die betreffende Stelle im Sommer 2019. Ich wurde dann darum gebeten, mich erneuert im November 2019 zu melden, um einen Termin Anfang 2020 bekommen zu können. Mein erster Termin war im Januar 2020 und dort wurde mir gleich zu Beginn gesagt, das es nur zu einer gesicherten Diagnose kommen könne, wenn einer meiner Eltern oder eine nahestehende Person, die in meiner Kindheit engen Kontakt mit mir hatte, befragt werden könne. Das war für mich ein Schock, weil ich so spontan keine Möglichkeit für mich sah, dass meine Mutter Fragen beantworten würde. Und es wurde gesagt, dass wenn sie nach dem ersten Termin keinen Verdacht sehen würden, die Diagnostik zu Ende wäre und ich auch keine Fragebögen beantworten müsse. Ich bekam am Ende des Termins Fragebögen, die ausgefüllt an diese Stelle zurück gesendet werden sollten und dann würde man mir einen erneuten Termin zukommen lassen. Meine Betreuerin ermutige mich, es irgendwie zu versuchen, den Elternbogen von meiner Mutter, zu der ich bereits seit einiger Zeit keinen Kontakt mehr hatte ,ausfüllen zu lassen. Ich fragte eine meiner Schwestern, die noch Kontakt zu meine Mutter hatten, ob sie den Bogen bei meiner Mutter abfragen könnte. Ich schickte ihr den Bogen zu, sie ging damit zu meiner Mutter und stellte ihr die Fragen. Laut Aussage meiner Schwester war sie ziemlich genervt. Dann bekam ich den Bogen per Post zurück und schaute ihn mir an. Meine Mutter hatte alle Fragen so beantwortet, als wäre meine Kindheit völlig normal verlaufen. Mir ist bis heute nicht klar, ob sie bewusst die Fragen falsch beantwortet hat, ob sie es nach so langer Zeit nicht mehr genau wusste und einfach irgendwie geantwortet hat, oder ob sie mich mit einer meiner jüngeren Geschwister verwechselt hatte. Fakt ist, das sie seit vielen Jahren regelmäßig Alkohol konsumiert und laut ihrem Verhalten anderen gegenüber zu urteilen, deutlich zu viel. Ich schickte den Bogen an die Diagnostikstelle und erklärte bei meinem Folgetermin das ich mir viele Antworten meiner Mutter nicht erklären kann, weil es so einfach nicht zutreffen würde. Nach der Testung beim zweiten Termin wurde gesagt, dass die Testung und Befragung ganz klar für Autismus sprechen würde, aber die Antworten im Bogen, den meine Mutter beantwortet hatte, meinen Aussagen widersprechen würden. Ich habe versucht mich zu erklären und ich wurde gefragt ob ein Telefonat mit meiner Mutter möglich wäre, um mehr Klarheit zu finden. Meine Schwester sagte mir klar, dass meine Mutter sich auf kein Telefonat einlassen würde und dass es schon ein Wunder gewesen sei, dass sie die Fragen für den Bogen beantwortet hätte. Da diese Diagnostikstelle aber nur eine gesicherte Diagnose vergib, wenn alles Tests und Aussagen für sie zusammen passen, bekam ich von dort die Verdachtsdiagnosen Asperger-Autismus und schizoide Persönlichkeitsstörung.

SdA: Was bedeutete es für Dich, wenn am Ende einer Diagnostik lediglich ein Verdacht gegeben wurde?

A: Es war für mich so wie in ein tiefes Loch zu fallen. Ich hatte viel Kraft investiert und das für ein “vielleicht” mit dem ich überhaupt nichts anfangen konnte. Am schlimmsten war für mich, dass es kein klares “ja” oder “nein” war. Mir war es egal was bei dieser Diagnostik rauskommen würde, solange es ein Ergebnis ist, mit dem ich hätte arbeiten können. Wie sollte ich daran arbeiten, dass es mir besser geht? Bin ich Autist und ich muss meine Grenzen respektieren, weil Autismus eine unheilbare, tiefgreifende Entwicklungsstörung ist, oder leide ich an einer Persönlichkeitsstörung zu deren Heilung ich vielleicht sogar meine Grenzen überschreiten muss? Das hat mich total verwirrt und ich habe mich sehr über mich geärgert, dass ich nicht vor der ganzen Diagnostik und Wartezeit gefragt habe, ob Aussagen von Eltern dringend notwendig sind. Es war quasi alles umsonst, ich stand wieder am Anfang, bloß noch geschwächter.

SdA: Wie kam es dazu, dass Du eine zweite Diagnostik angegangen bist?

A: Nach der ersten Diagnostik und der Verdachtsdiagnose ging mir sehr viel durch den Kopf, aber zuerst war ich weit weg von dem Gedanken, erneut eine Diagnostik anzustreben. Ich war während ich mich in der ersten Diagnostik befand der Gruppe “SdA – Spät diagnostizierter Autismus” beigetreten, um mich austauschen zu können. Ich denke, dass mich dies enorm aufgefangen hat. Mich erreichte sehr viel Zuspruch und das hat mir nach einer Weile die Kraft gegeben, überhaupt über eine erneute Diagnostik nachzudenken. Außerdem konnte ich mit diesem “vielleicht” einfach nichts anfangen, mir war Gewissheit extrem wichtig, egal wie diese auch aussehen würde. Trotzdem musste dafür erstmal eine andere Diagnostikstelle gefunden werden. Mir fehlten die finanziellen Mittel und ich hätte es nie geschafft, mit dem Zug irgendwo alleine hin zu fahren. Ich fand zuerst zwei mögliche Diagnostikstellen, die aber viel zu weit entfernt waren. Dann bekam ich von einem Mitglied der Gruppe einen Tipp und habe diese Stelle per E-Mail kontaktiert. Es stellte sich heraus, dass man sich ohne dort anzurufen nicht mal auf die Warteliste setzen lassen konnte. Aber es gab den Kompromiss, dass mein Mann das für mich übernehmen konnte, da es mir mittlerweile so schlecht ging, was telefonieren für mich unmöglich machte. Mittlerweile hatte ich einen anderen Betreuer (ABW), der mir versicherte, dass ich zu den Terminen gefahren werde, wenn es so weit ist. Ab August 2020 stand ich dann erneut auf einer Warteliste und es konnten zunächst keine Angaben darüber gemacht werden, wann voraussichtlich ein Termin stattfinden würde. Diese Ungewissheit war sehr schwer zu ertragen. In gewissen Abständen habe ich diese Stelle per E-Mail kontaktiert und bekam irgendwann die Rückmeldung, dass die Wartezeit ab Listung ca. neun Monate betragen würde. Es war zwar keine präzise Angabe, aber trotzdem hat mir das geholfen, weil es dadurch gedanklich für mich besser einzusortieren war. Trotzdem war für mich nachvollziehbar, dass es der aktuellen Corona Situation geschuldet in vielen Bereichen zu Verzögerungen kam. Als neun Monate vergangen waren, schrieb ich wieder eine E-Mail, um zu fragen, wann mit dem ersten Termin zu rechnen sei. Es konnten immer noch keine genauen Angaben dazu gemacht werden, weshalb mich das ganze wieder zunehmend nervöser gemacht hat. Abschließend fragte ich noch, wie lange denn der Zeitraum zwischen Terminbekanntgabe und Termin sein würde, da es für mich wichtig wäre, planen zu können. Da wurde mir versichert, dass es eine Vorlaufzeit von mindestens vier Wochen geben würde. In Wahrheit waren es dann zwei Wochen und es war fast ein Jahr vergangen, seitdem mein Mann mich auf die Warteliste hat setzen lassen, als mein erster Termin stattfand.

SdA: Das klingt, als sei es sehr schwierig, an einen Diagnoseplatz zu kommen. Was sind Deiner Meinung nach die größten Hürden für Betroffene?

A: Die größte Problematik sehe ich in mangelhafter Aufklärung und zu wenigen Fachkräften, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Es scheint auch nicht so richtig ernst genommen zu werden, welchen Leidensdruck Betroffene ausgesetzt sind. Ein Betreuer sagte mal zu mir, wenn ich bis jetzt irgendwie durch gekommen wäre, bräuchte ich doch jetzt auch keine Diagnose mehr. Abgesehen von möglicher Unterstützung durch eine Diagnose war es mir enorm wichtig zu wissen, was mit mir los ist. Viele Menschen scheinen das nicht zu verstehen und manche machen sich sogar lustig darüber, was ziemlich verletzend ist. Es gibt soviel Aufklärung in verschiedenen medizinischen Bereichen, aber wenn es um Autismus geht, muss man ziemlich viel Kraft und Zeit investieren, um brauchbare Informationen zu finden. Wenn es allerdings Kinder betrifft, findet man wesentlich mehr Stellen, die zuständig sind. Es wäre eventuell eine Idee, Stellen, die Autismusdiagnostik bei Kindern durchführen, mit Informationen in Richtung Autismusdiagnostik bei Erwachsenen auszustatten. Es scheint ziemlich häufig vor zu kommen, dass Erwachsen erst ein Verdacht auf Autismus bewusst wird, wenn ihr Kind bereits diagnostiziert wurde. Da wäre es doch praktisch, von dieser Stelle die notwendigen Informationen erhalten zu können. Ich vermute aber, dass, da statistisch gesehen nicht so viele Menschen von Autismus betroffen sind, einfach das Interesse fehlt in diese Richtung viele Ressourcen einzusetzen. Und ich vermute, dass oft einfach erwartet wird, wenn man als Erwachsener sich bisher durchs Leben kämpfen konnte, man das ja auch weiterhin tun könne. Die Bereitschaft für Hilfe und Unterstützung wird mit zunehmenden Alter immer geringer. Dabei wäre es so wichtig, Menschen, die Unterstützung brauchen, diese sich zu gewähren. Gerade mit gewissen Einschränkungen, die nicht für andere sichtbar sind, wird es extrem schwer, Hilfe zu finden, weil niemand den Bedarf direkt sehen kann. Für viele Menschen soll man sich einfach zusammen reißen, weil andere es ja auch schaffen.

SdA: Wurde Deine Mutter in dieser zweiten Diagnostik auch befragt?

A: Nein. Ich habe der Diagnostikstelle meine Verdachtsdiagnose zukommen lassen und erklärt und alles offen kommuniziert in Bezug auf das Verhältnis zu meiner Mutter. Beim ersten Termin dort wurde mir gesagt, dass es eventuell erneut zu einer Verdachtsdiagnose kommen könnte, da es ohne die Befragung von Eltern schwieriger ist, zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen.

SdA: Es scheint also sehr schwierig zu sein, eine Diagnostik ohne verlässliche Aussagen der Eltern durchzuführen. Wie kann man sich den Ablauf der Diagnostik vorstellen?

A: Ja, den Eindruck habe ich auch. Der Ablauf war bei beiden Diagnostiken an manchen Stellen ähnlich, aber an anderen Stellen sehr unterschiedlich. Bei meiner ersten Diagnostik hatte ich zwei Termine, bei der zweiten fünf. Mir kam die zweite Diagnostik wesentlich umfangreicher vor. Bei beiden Diagnostiken wurden viele Fragen gestellt und einige Tests gemacht. Fragebögen mussten auch immer ausgefüllt werden. Bei meiner ersten Diagnostik bekam man diese erst nach einem ersten Gespräch, bei Verdacht auf Autismus und bei der zweiten Diagnostik wurden mir die Fragebögen mit Angabe des ersten Termins per PDF zugesandt und ich sollte diese bereits zum ersten Termin ausgefüllt mitbringen. Beide Stellen fragten nach Zeugniskopien und ärztlichen Unterlagen, die für die Diagnostik interessant sein könnten. Bei der zweiten Diagnostik wurde zusätzlich eine grobe IQ Testung durchgeführt und ein Test, der speziell autistische Probleme aufgriff. Ich weiß nicht, ob speziell der Umgang damit einem über die Ergebnisse aufzuklären vor der Corona Pandemie anders abgelaufen wäre. Das erste Ergebnis wurde (mit meiner Einwilligung) meinem Mann telefonisch mitgeteilt, der Bericht kam später per Post. Das Ergebnis der zweiten Diagnostik kam per Post.

SdA: Und was ergab die zweite Diagostik?

A: Die zweite Diagnostik ergab die Diagnose Asperger-Syndrom F84.5 nach ICD-10 bzw. Autismus-Spektrum-Störung 299.00 nach DSM-V.

SdA: Wie geht es Dir jetzt mit der Diagnose?

A: Das ist schwer zu beschreiben. Einerseits bin ich froh, dass ich jetzt Gewissheit habe, andererseits bedeutet diese Gewissheit, dass ich sehr viel in meinem Leben verändern muss, damit es mir besser gehen kann. Das ist kompliziert, es braucht Zeit überhaupt seine eigenen Grenzen zu kennen und sich seiner individuellen Möglichkeiten bewusst zu werden. Aber es geht mir gut damit, dass ich das Thema “Autismusdiagnostik” mit klarem Ausgang zum Abschluss bringen konnte. Es liegt viel hinter mir und nach wie vor viel vor mir. Ich bereue nicht diesen Weg gegangen zu sein, auch wenn es meine Kräfte stark strapaziert hat.

SdA: Was würdest Du anderen raten, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie Du vor der Diagnostik?

A: Wenn jemand den Verdacht hat, Autist zu sein und gewisse Probleme im Leben darauf zurück führt, würde ich dazu raten, dies durch Fachkräfte abklären zu lassen. Ein guter erster Schritt ist es, Gleichgesinnte zum Austausch zu finden, so wie ich sie bei SdA – Spät diagnostizierter Autismus gefunden habe. Durch so eine Gruppe bekommt man sehr viele nützliche Informationen (zum Beispiel Adressen von Diagnostikstellen) und es gibt Menschen, die verstehen, was gerade in einem vorgeht. Bevor man sich auf eine Warteliste setzen lässt, sollte man klar stellen, ob man seine Eltern mit in diese Diagnostik einbinden kann, oder auch ohne Eltern eine gesicherte Diagnose möglich ist. Sowas erspart eventuell viel Wartezeit und Kraft. Während man auf den Termin wartet, kann man sich ab und zu Gedanken machen, wie die eigene Kindheit verlaufen ist, womit man gespielt hat, ob man Freunde hatte oder wie man mit anderen Kindern zurecht gekommen ist. All diese Gedanken wie eine Art Lebenslauf, der Erfolge wie Niederlagen beschreibt, einen Einblick über die erlebte Familienstruktur, kann man notieren und nach und nach zu einem gut lesbarem Text zusammenfassen. Und man sollte die Zeit nutzen, seine Grundschulzeugnisse rauszusuchen, weil diese oft verlangt werden. Dies kann man dann alles bei der Diagnostik abgeben und stellt damit sicher, dass wichtige Dinge auch Erwähnung finden. Ansonsten kann man sich auf so eine Diagnostik nicht vorbereiten. Ich fand es persönlich für mich wichtig, nicht mit der Erwartung in die Diagnostik zu gehen, dass ich auf jeden Fall Autist bin, sondern offen für das zu sein, was letztlich die Fachleute herausfinden. Es ist für das eigene Leben wichtig zu wissen, was einem hilft die eigene Situation zu optimieren. Dies ist nur möglich, wenn man weiß, was mit einem los ist. Es gibt sicherlich Möglichkeiten einen Umgang mit Autismus zu finden, aber die Lösungen sind mit dieser Diagnose andere und haben ihre Grenzen im Gegensatz zu einer psychischen Erkrankung, die heilbar sein kann.

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