André

Start ins Berufsleben

Mein Berufsleben begann mit einer kaufmännischen Ausbildung. Vom Autismus ahnte ich zu der Zeit noch nichts. Mit den anderen Auszubildenden kam ich gut zurecht, allerdings blieb ich Außenseiter. Den Gesprächen der anderen Auszubildenden entnahm ich, dass sie häufiger etwas zusammen unternahmen. Wie die beiden Auszubildenden meines Jahrgangs Zugang zu den Auszubildenden der höheren Jahrgänge fanden, erschloss sich mir nie.

Szenen aus dem Berufsleben

Nach der Ausbildung wurden leider weder mein Kollege noch ich übernommen. Also musste ich viele Bewerbungen schreiben, aus denen sich ein einziges Vorstellungsgespräch ergab. In diesem Gespräch fragte mein Gegenüber mich unter anderem, ob ich behindert sei. Ich verneinte. Mein Gegenüber grinste und sagte dann: „Und geistig?“ Die Szene hat sich mir eingebrannt. Mit dieser Frage war das Vorstellungsgespräch für mich innerlich beendet.

Nach einer technischen Umschulung fand ich eine Anstellung in der Planung von kleinen Postverarbeitungs-Anlagen. Während der Hannover-Messe war ich Standbesetzung auf dem Messestand, an dem mein Arbeitgeber beteiligt war. Zum Messe-Abschluss wurden alle Leute, die als Standbesetzung tätig gewesen waren, zu einer kleinen Feier eingeladen. Der Firmeninhaber bemerkte während der Feier vor allen Kollegen, dass ich nie lächeln würde. Ich fühlte mich etwas vor den Kopf gestoßen. Wenige Tage später musste mein Abteilungsleiter mir auf Anweisung des Firmeninhabers die schriftliche Kündigung überreichen. Offenbar mochte der Firmeninhaber mich nicht.

Mein Abteilungsleiter erreichte, dass die Kündigung zurück genommen wurde, aber ich durfte nicht in die Planung zurück. Also kündigte ich nach knapp zwei Jahren, um zu studieren.

Überlastungs-Reaktion

Nach dem Ingenieur-Studium hatte ich das erste Vorstellungsgespräch, ausgerechnet als Vertriebs-Ingenieur. Bis heute ist mir unverständlich, warum ich mich um diesen Job beworben hatte. Die zwei einleitenden Fragen konnte ich noch problemlos beantworten, dann bekam ich das Gefühl, mich in einer Art mentalem Strudel zu befinden. Ich starrte auf den Becher mit Kugelschreibern und bunten Stiften, der auf dem Schreibtisch meines Gegenübers stand. Vom Gespräch bekam ich fast nichts mehr mit, weil ich innerlich weggetreten war. Erst als mein Gegenüber aufstand und das Gespräch für beendet erklärte, nahm ich meine Umgebung wieder richtig wahr. Es war eine für mich beängstigende Situation, weil ich noch nie derart neben mir stand.

Das plötzliche Wegtreten würde ich als Shutdown bezeichnen, ausgelöst durch das Bombardement an Fragen. Wenn mein Gehirn überladen wird, entlädt sich die Überlastung entweder als etwas, das wie ein Wutanfall aussieht, oder ich reagiere auf Ansprache vorübergehend nicht mehr.

Unterstützungsmöglichkeiten

Mir fällt es schwer, unter Kollegen eine Unterhaltung zu beginnen. Eine typische Situation ist das monatliche gemeinsame Mittagessen. Dafür suche ich mir einen Randplatz, weil ich ungern zwischen Menschen sitze. Hilfreich ist in dieser Situation, wenn ich angesprochen werde, mit einem sinnvollen Thema bitte. Glücklicherweise bin ich an vielen Themen interessiert, das aktuelle Wetter gehört aber nicht dazu.

Tipps und Hinweise zur Kommunikation

Mein früherer Chef (Inhaber einer kleinen innovativen Firma mit max. vier Mitarbeitern) fragte mich gelegentlich, ob ich über Informationen zu einem bestimmten Thema verfüge. Natürlich kam es vor, dass ich NEIN sagen musste. Damit war die Sache für mich erledigt. Woher sollte ich wissen, dass mein früherer Chef erwartete, dass ich meine Antwort um „Ich kümmere mich um die gewünschten Informationen“ erweitere?

Wenn eine bestimmte Aktion von mir erwartet wird, muss man mir das eindeutig sagen. Ich kann Mimik und Gestik kaum deuten, deshalb bin ich auf eindeutige verbale oder schriftliche   Kommunikation angewiesen. Leider zerfällt eine Aktion für mich in mehrere Teile, deren Details ich sofort analysieren muss. Dadurch bin ich etwas abgelenkt und muss mich sehr konzentrieren, um weiteren Erläuterungen zu folgen. Außerdem nehme ich wie alle Autisten Umgebungsreize stärker wahr als Nicht-Autisten. Leute, die beim Spielen mit Gegenständen Geräusche produzieren (typisch ist das Knipsen mit einem Kugelschreiber) oder Vor-sich-hin-grunzen, Hüsteln und Schnüffeln machen mich nervlich fertig.

Meetings sind für mich ein schwieriges Thema. Ich kann mich verbal gut ausdrücken, aber mir fällt es schwer, unter Druck schnell auf Äußerungen zu reagieren (Meetings setzen mich unter Druck). Wenn ein Teilnehmer eine kurze Pause beim Reden macht, denke ich, dass er fertig mit seiner Aussage ist. Setze ich dann zu einer Antwort an, muss ich feststellen, dass ich dabei bin, dem anderen Sprecher ins Wort zu fallen, ups. An diesem unschönen Teil meines Wesens arbeite ich noch.

Teamarbeit ist ebenfalls sehr schwer für mich. Wenn ich von Kollegen angesprochen werde, kann ich problemlos reagieren. Von mir aus auf die Kollegen zuzugehen ist oft nicht einfach. Glücklicherweise habe ich jetzt einen verständnisvollen Abteilungsleiter.

Wie viele Autisten mag ich keinen Augen-Kontakt. Das hat nichts mit dem Verbergen unguter Gedanken zu tun, sondern mit dem Gefühl, dass die Augen meines Gegenübers mich aufsaugen. Auf den Mund mag ich auch nicht gucken. Also verzichte ich darauf, anderen Leuten längere Zeit ins Gesicht zu sehen. Mir ist bewusst, dass ich dadurch unangenehm wirken mag, das muss ich hinnehmen.

Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten

Hilfreiche Informationen zum Thema Autismus für Kollegen und Vorgesetzte sind hier zu finden:

https://www.autismus.de/service-und-materialien/arbeit-und-berufliche-bildung.html

Meinem aktuellen Arbeitgeber schickte ich vor meinem ersten Arbeitstag einige PDF-Dokumente von der oben genannten Seite. Diese Dokumente wurden an alle Kollegen geschickt, so dass mein Start in der neuen Firma problemlos war.

Da mein Gehirn anfängt, Details zu bearbeiten, sobald mir technische Informationen zuteil werden, verliere ich manchmal Informationen. Gelegentlich verstehe ich Aussagen auch anders, als sie gemeint sind. Generell benötige ich die Möglichkeit, nachzufragen, auch wenn mein Gegenüber davon genervt wird. Mein Gehirn kann nur so arbeiten wie beschrieben.

Die Verarbeitung neuer technischer Informationen fällt mir leichter, wenn mir vorab ein Termin dafür mitgeteilt wird. Die plötzliche Überflutung mit neuen Informationen überfordert mich mental. Mein erster Abteilungsleiter in der Firma, in der ich seit zwei Jahren arbeite, hatte die schreckliche Angewohnheit, ohne Vorwarnung in mein Büro zu platzen und sofortige Aufmerksamkeit zu verlangen. In der Anfangsphase meiner Tätigkeit arbeitete ich mich gerade in ein für mich neues Konstruktions-Programm ein. Das plötzliche Umschwenken von aktivem Arbeiten auf passives Zuhören ist für mich ein Kraftakt, der sehr an meiner Psyche zerrt. Eine Bemerkung wie „das habe ich schon 100 Mal erklärt“ lässt mich innerlich hochgradig rotieren und ist meinem Lernen abträglich.

„Kennst Du einen Autisten, kennst Du einen Autisten.“ Jeder Autist ist einzigartig. Um seinen Arbeitsplatz passend einzurichten, ist es am sinnvollsten, den autistischen Mitarbeiter direkt zu fragen, wie der Arbeitsplatz optimal gestaltet werden soll. Für mich zum Beispiel kommt die Arbeit in einem Großraumbüro aufgrund der Umgebungs-Geräusche nicht in Frage.

Die Autismus-Diagnose erhielt ich 2018 im Alter von 55 Jahren. Meinen jetzigen Arbeitgeber informierte ich bereits während des Vorstellungsgesprächs darüber, dass ich Autist bin.

 

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