Einführung Autismus

Autismus zählt zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und wird im derzeit für Deutschland gültigen ICD-10 („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“, übersetzt „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ – 10. Fassung), aktuell in drei verschiedene Formen unterteilt:

  •       Frühkindlicher Autismus (F 84.0)
  •       Asperger Syndrom (F 84.5)
  •       Atypischer Autismus (F 84.1)

Der frühkindliche Autismus, auch als Kanner-Syndrom bekannt, wurde von Leo Kanner 1943 erstmals untersucht. Er zeichnet sich durch einen sehr frühen Beginn der Auffälligkeiten bereits vor dem dritten Lebensjahr aus. Beeinträchtigungen finden sich laut ICD in der sozialen Interaktion, der Kommunikation und in Verhaltensweisen, die repetitiven und stereotypen Mustern folgen und in ihrer Vielfalt beschränkt sind. Vor allem das teils vollständige Ausbleiben verbaler Sprache ist häufig anzutreffen.

Unabhängig von Kanners Forschung stieß Hans Asperger im gleichen Jahr auf eine weitere Form des Autismus. Bei der heute als Asperger-Syndrom bekannten Ausprägung zeigen sich ebenso wie beim frühkindlichen Autismus Symptome im sozialen und kommunikativen Bereich und auch stereotype Verhaltensmuster können beobachtet werden. Der auffälligste Unterschied besteht darin, dass Asperger-Autisten in der Regel keine verzögerte Sprachentwicklung aufweisen und teils bereits sehr früh mit dem Spracherwerb beginnen.

Der Atypische Autismus gleicht in seinem Erscheinungsbild weitgehend dem frühkindlichen Autismus, wobei die Auffälligkeiten entweder erst nach dem dritten Lebensjahr zeigen oder aber die Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus nicht vollständig erfüllt werden.

Eine Unterform des frühkindlichen Autismus ist der sogenannte „hochfunktionale Autismus“. Entscheidend für den hochfunktionalen Autismus ist ein IQ von 70 und mehr. Im Unterschied zum Asperger-Syndrom, bei dem Betroffene ebenfalls einen durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen IQ aufweisen, ist hier eine Sprachverzögerung vorhanden.

Da eine klare Abgrenzung und Zuordnung nicht immer möglich ist, wird mit Einführung des ICD-11 ab voraussichtlich Januar 2022 zukünftig eine „Autismus-Spektrum-Störung“ in verschiedenen Ausprägungen und Einschränkungen diagnostiziert. Die Kategorisierung erfolgt dann über zwei Faktoren: die intellektuelle Entwicklung und der Spracherwerb.

  •       Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der intellektuellen Entwicklung und mit milder oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache (6A02.0)
  •       Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der intellektuellen Entwicklung und mit milder oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache (6A02.1)
  •       Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der intellektuellen Entwicklung und mit beeinträchtigter funktioneller Sprache (6A02.2)
  •       Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der intellektuellen Entwicklung und mit beeinträchtigter funktioneller Sprache (6A02.3)
  •       andere spezifizierte Autismus-Spektrum-Störungen (6A02.Y)
  •       Autismus-Spektrum-Störung, unspezifiziert (6A02.Z)

Da die Auffälligkeiten bereits in den ersten Jahren zum Tragen kommen, werden viele Autisten bereits im Vorschulalter erkannt und diagnostiziert. Durch eine frühe Diagnose können rechtzeitig Hilfen und Förderungen geboten werden, die ein Kind in seiner Entwicklung unterstützen können. Da Autismus jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, werden manche Betroffene erst sehr spät erkannt.

Autismus ist angeboren und nicht heilbar. Es gibt auch keine speziellen Medikamente, mit welchen sich Autismus behandeln lässt. Es gibt allerdings verschiedene Therapien, durch die man lernen kann, mit den entsprechenden individuellen Schwierigkeiten umzugehen und Strategien anzueignen. Autismus betrifft die Funktionsweise des Gehirns und somit die Wahrnehmung und den Menschen an sich. Deshalb müssen bei der Diagnostik mehrere Bereiche auffällig sein, um als Autismus erkannt zu werden:

  •       Soziale Interaktion
  •       Kommunikation
  •       Repetitive/Stereotype Verhaltensmuster
  •       Eingeschränkte Interessen (bei Asperger sogenannte „Spezialinteressen“)
  •       Motorik
  •       Sensorik

Hiermit verbunden sind für Betroffene vielfältige Einschränkungen im alltäglichen Leben. Vor allem die Schwierigkeiten im Bereich der sozialen Interaktion und in der Kommunikation führen dazu, dass es Autisten oft schwer fällt, Kontakte zu knüpfen und Freunde zu finden. Viele Betroffene leiden sehr unter der daraus resultierenden unfreiwilligen Einsamkeit.

Im Bereich der Kommunikation ist häufig vor allem die nonverbale Kommunikation nur schwach bis gar nicht ausgeprägt. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten im Erkennen und Zeigen von Gefühlen. Werden Gefühle des Gegenübers nicht richtig erkannt, kann nicht angemessen darauf reagiert werden. Oft wirkt der Betroffene hierdurch nach außen nicht empathisch, woher das Klischee des empathielosen Autisten stammt. Die meisten Autisten fühlen jedoch selbst sehr stark und können sehr wohl Gefühle nachempfinden, wenn sie dazu in der Lage sind, diese in ihrem Gegenüber zu erkennen. Jedoch fällt es auch vielen Autisten schwer, die eigenen Gefühle zuzuordnen und zu benennen, wodurch diese Situation noch einmal verschärft wird.

Häufig ist bei Autisten Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) anzutreffen. Hier fällt es Betroffenen schwer, sich an Gesichter zu erinnern und Bekannte nur am Gesicht zu erkennen. Auch Alexithymie (Gefühlsblindheit) kann in Verbindung mit Autismus auftreten.

Die Wahrnehmung Betroffener ist entweder besonders empfindsam oder aber abgestumpft. So werden häufig äußere Reize wie Licht, Lärm, Geruch und Berührung als unangenehm bis hin zu unerträglich empfunden oder kaum wahrgenommen. Dies wirkt sich vor allem auch auf das Schmerzempfinden vieler Autisten aus.

Viele Betroffene zeigen Schwierigkeiten, einzelne Reize auszublenden. Dadurch kann es schnell zur Reizüberflutung, dem „Overload“ kommen. Eine solche Überflutung führt häufig zu einem sogenannten „Meltdown“, der nach außen an einen Wutanfall oder einen Nervenzusammenbruch erinnert. Dem folgt in der Regel der „Shutdown“, eine Phase des Abschaltens. Der Betroffene ist in diesem Moment oft nur bedingt ansprechbar und wirkt abwesend.

Um einen Overload abzubauen setzen viele Autisten „Stimming“ ein. Dies ist eine Form des selbstregulierenden Verhaltens. Ein selbst erzeugter Reiz wird dazu genutzt, andere Reize zu übertönen und somit auszublenden. Andererseits kann Stimming auch genutzt werden, um in einer reizarmen Umgebung Reize zu erzeugen. Stimming kann sowohl körperlich durch Bewegung als auch durch Laute stattfinden. Oft findet Stimming unbewusst statt. Es ist jedoch möglich, durch bestimmte Tätigkeiten wie Stimming-Toys (LINK EINFÜGEN) bewusst Reize zu setzen, um der Reizüberflutung zu entkommen.

Wenn sich ein Overload nicht abbauen lässt, muss sich der Betroffene der Situation entziehen können, da es sonst zum Zusammenbruch kommt. In dieser Situation wird Ruhe und ein sicherer Rückzugsort dringend benötigt.

Vielen Autisten fällt es schwer, mehrere Anweisungen gleichzeitig auszuführen oder zwischen Tätigkeiten zu wechseln. Auch spontane Veränderungen in der Tagesstruktur sind für viele nur schwer zu bewältigen. Dabei ist nebensächlich, ob die Veränderung selbst als positiv oder negativ wahrgenommen wird.

Da Autismus anhand einer Vielzahl von Symptomen diagnostiziert wird, ist in der Differenzialdiagnostik wichtig, andere Störungsbilder mit ähnlichen Symptomen auszuschließen. Jedoch ist es auch möglich, dass Doppeldiagnosen gestellt werden. Häufig anzutreffen ist hierbei die Schizophrenie, die sich in vielem sehr ähnlich zeigt, jedoch in den meisten Fällen deutlich vom Autismus abzugrenzen ist. Weitere Diagnosen, die auch komorbid auftreten können, sind:

  •       ADHS
  •       Hochbegabung
  •       Depression
  •       Borderline-Persönlichkeitsstörung
  •       Zwangserkrankungen (OCD)
  •       Bindungsstörungen

Autistische Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, setzt die Bereitschaft der Gesellschaft voraus, die Besonderheiten Betroffener und ihre Grenzen zu akzeptieren und sich darauf einzulassen. Dies betrifft neben dem privaten Umfeld Betroffener auch alle Bereiche des öffentlichen Lebens wie Kindergarten, Schule und Beruf.

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