Geschichte

Die Geschichte des Autismus beginnt 1911 mit der ersten Erwähnung des Wortes durch Paul Eugen Bleuler (1857-1939). Er bezeichnet damit ein Phänomen, das er als eine Unterform der von ihm drei Jahre zuvor beschriebenen Schizophrenie zu erkennen glaubt. Besonders auffällig war an den Patienten ihr in sich zurückgezogenes Verhalten, von dem er auch den Begriff „Autismus“ als „in sich selbst gekehrt“ ableitet. Die Vorstellung, es handle sich bei Autismus um eine Form der Schizophrenie, hält sich noch bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts.

 

1925 übernimmt die russische Ärztin für Psychiatrie Grunya Sukhareva (1891-1981) den Begriff der Schizophrenie für sechs ihrer Patienten. („Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter“ Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Band 60, 1926, S. 235–261) Sie beschreibt die „schizoide Psychopathie“ als [übersetzt] „Störung, deren klinisches Bild gewisse Gemeinsamkeiten mit Schizophrenie aufweist und dennoch entschieden von Schizophrenie abweicht“.

In insgesamt 50 Jahren Forschung entwickelt Sukhareva Thesen hinsichtlich der schizoiden Psychopathie, die nahezu identisch mit der Beschreibung der später als Asperger-Syndrom bekannten Autismus-Variante im DSM-5 sind. Durch ihre Arbeit auch im Bereich der PTBS bei kriegsversehrten Kindern und aktiven Einsatz für ihre Patienten zählt sie zu den bedeutendsten Figuren der russischen Kinderpsychiatrie.

In den Jahren 1943/1944 kommt der österreichische Psychiater Hans Asperger bei einer Reihe junger Patienten zu ähnlichen Ergebnissen wie zuvor Sukhareva. Ob ihm ihre Forschung bekannt war, ist nicht überliefert. Beide beziehen sich in ihren Schriften auf die Erkenntnisse Bleulers, Sukhareva wird von Asperger jedoch nicht erwähnt.

Die von Asperger beobachteten Kinder zeigen keine verzögerte Sprachentwicklung und sprechen stattdessen bereits früh auffallend erwachsen. Sie scheinen kein Interesse an anderen Kindern zu zeigen und weisen einen seltsamen Gang und eine allgemeine motorische Ungeschicklichkeit auf. Auch Asperger fallen die Ähnlichkeiten zur Schizophrenie auf, weshalb er die von ihm beobachteten Kinder als „autistische Psychopathen“ bezeichnet. („Die „Autistischen Psychopathen“ im Kindesalter“ Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Band 117, Nr. 1, 1944, S. 76–136)

Aspergers Forschung steht bis heute in der Kritik, da seine Arbeit von den Nationalsozialisten finanziert wurde und er somit an der Euthanasie geistig behinderter Kinder beteiligt war. Dies trägt auch dazu bei, dass seine Studien erst 1980 internationale Anerkennung finden.

Der ebenfalls aus Österreich stammende Psychiater Leo Kanner (1894-1981) forscht nahezu gleichzeitig mit Asperger in den USA mit Patienten, bei denen ebenfalls Schizophrenie diagnostiziert wurde. Er ist der erste, der für seine Arbeit hinsichtlich Autismus internationale Anerkennung erlangen kann. Ihm fällt an seinen Patienten vor allem auf, dass sie in ihrer eigenen Welt zu leben und andere Menschen zu ignorieren scheinen, sich über Stunden mit repetitiven Bewegungen selbst beschäftigen können und in Panik geraten, wenn Unvorhergesehenes eintritt.

Die internationale Bekanntheit seiner Arbeit sorgt dafür, dass Autismus weltweit an Bekanntheit gewinnt. Jedoch unterschätzt Kanner die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bei weitem. Geht man heute davon aus, dass sich über ein Prozent aller Menschen im autistischen Spektrum befinden, so schätzt Kanner die Wahrscheinlichkeit auf einen Betroffenen unter zehntausend Kindern. Dies liegt auch an den sehr strengen Kriterien, die er selbst definiert und die in etwa dem heutigen „frühkindlichen Autismus“ entsprechen. Kanner glaubt, dass Autismus eine reine Kinderkrankheit sei, was später widerlegt wird.

 

Zur Zeit Kanners ist es Usus, psychologische Störungen auf ein in der Kindheit erlebtes Trauma zurückzuführen. Auch Kanner glaubt, in besonders lieblosen Müttern („Kühlschrankmütter“) die Ursache gefunden zu haben. Doch bereits seine eigenen Studien widerlegen diese Theorie. Dennoch hält sich der Glaube an diese These noch weitere 20 Jahre.

1981 erscheint die Studie „Asperger syndrome: a clinical account“ unter der Leitung von Lorna Wing (1928-2014). Die britische Psychologin ist selbst Mutter einer autistischen Tochter. Im Angesicht fehlender Fördermöglichkeiten finanzieller und therapeutischer Natur nimmt sie sich die Arbeiten Kanners und erstmalig auch Aspergers vor und erweitert diese anhand eigener Studien.

Im Rahmen dieser Studie untersucht sie Kinder in psychiatrischen Einrichtungen, die bislang noch keine anderweitige Diagnose haben. Dabei erkennt sie, dass die bisher angenommenen Wahrscheinlichkeiten Kanners weit unter der Realität liegen. Ihre Schätzung beläuft sich auf mehr als eine betroffene Person unter tausend. Jedoch betrachtet ihre Studie nur Kinder, die bereits in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht sind, was auch diesen Wert verfälscht.

Durch ihre Studien bemerkt Wing, dass es mehr als nur eine Form von Autismus zu geben scheint. Vor allem der Spracherwerb differiert auffällig. Sie erkennt, dass Autismus keine feste Form hat, sondern aus einem Spektrum besteht, in dem verschiedene Eigenschaften unterschiedlich ausgeprägt sind.

Eine weitere großflächig angelegte Studie in den 1990er Jahren ergab eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 0,7 %. Damit zeigt sich, dass Autismus keineswegs wie bisher angenommen eine besonders seltene Störung ist. Bis zu diesem Zeitpunkt nahm die Fachwelt jedoch an, dass Autismus ein zu vernachlässigender Bereich sei, da die Wahrscheinlichkeit, mit Autisten zu arbeiten, als gering eingeschätzt wurde. Diese neue Zahl bedeutet jedoch, dass es sehr viele Autisten geben muss, die bisher aufgrund unzulänglicher Diagnostikmethoden nicht erkannt werden konnten.

1995 veröffentlicht Lorna Wing mit „Autistic Spectrum Disorders: an Aid to Diagnosis“ und im Folgejahr „The Autistic Spectrum: a Guide for Parents and Professionals“ gleich zwei Leitfäden, die die Diagnostik und den professionellen Umgang mit autistischen Kindern erleichtern sollten.

Etwa zeitgleich mit Wings ersten Studien entwickelt der norwegische Psychologe Ole Ivar Lovaas (1927-2010) die Autismustherapieform „ABA – Applied Behaviour Analysis“. Ziel dieser Therapie ist, mittels Belohnung und Bestrafung bis hin zu Elektroschocks (bis ca. 1980) autistisches Verhalten abzutrainieren und neurotypisches Verhalten zu belohnen. Das Ziel dieser Therapie ist ein autistisches Kind, das sich nicht mehr autistisch verhält. Viele Betroffene, die als Kind Erfahrung mit ABA machten, entwickelten später aufgrund des Erlebten eine posttraumatische Belastungsstörung. Obwohl ABA seit langem heftig in der Kritik steht, autistischen Kindern neben antrainierten Verhaltensmustern psychisch betrachtet langfristig erheblichen Schaden zuzufügen, finden sich auch in Deutschland Stellen, die ABA als Therapieform anbieten.

 

1999 bildet sich die Neurodiversitätsbewegung als Gegenbewegung zu den Bestrebungen, Autismus mit Therapien und Medikamenten „heilen“ zu wollen. Neurodiversität bedeutet, dass Gehirne von Natur aus leichten Veränderungen unterworfen sind, die in der Entwicklung zu unterschiedlichen Neurotypen führen. Als Neurodivers zählen neben Autismus auch ADHS und Legasthenie sowie weitere Diagnosen. Es wird davon ausgegangen, dass es sich hierbei um sogenannte Normvarianten handelt, die angeboren sind und keiner Heilung bedürfen.

Heute unterteilt der ICD-10 („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“) Autismus in drei Kategorien: frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Ab voraussichtlich Januar 2022 soll nach ICD-11 Autismus als Spektrum betrachtet werden, dessen Ausprägung anhand der verbalen und intellektuellen Entwicklung festgelegt werden soll.

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