Hyperfokus vs. Spezialinteresse

(Vielen Dank an dieser Stelle an Tamara Müller für die Erlaubnis, Text und Bilder hier zu veröffentlichen.)

Ich glaube, wir müssen mal wieder über die Kollegen sprechen.
Denn meiner Meinung nach haben sie kaum etwas miteinander gemeinsam.

Spezialinteresse:

Eine exzessiv ausgeführte Tätigkeit, die einen großen Teil der Freizeit und der Gedanken einnimmt. Der Betroffene hat wenig Interesse an anderen Gesprächsinhalten, wenn er überhaupt Interesse am geselligen Beisammensein hat. Meistens wird in bemerkenswert kurzer Zeit extrem viel Wissen gesammelt, recherchiert und wie ein Schwamm aufgesogen.

Spezialinteressen haben nicht nur Autisten, das merkt man gerade daran, dass in Communitys von „seltsamen“ Hobbys gerne der Begriff „rabbit hole“ verwendet wird. Zu deutsch: Man versinkt tief im Kaninchenbau.
Es ist also kein Phänomen, das nur bei Autisten auftritt, jedoch haben Autisten fast immer ein Spezialinteresse.

Hyperfokus:

Der Hyperfokus ist noch am ehesten vergleichbar mit dem allseits bekannten Flow. Dieser Flow wird von den meisten Menschen immer wieder erlebt. Er ist an sich nichts besonderes. Ein großer Unterschied zum Hyperfokus ist jedoch das Maß an Kontrolle, welches man im Flow verspürt. Und das ist hoch. Man hat das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, „In charge“ zu sein.

Das haben die meisten Betroffenen beim Hyperfokus eben nicht. Es ist fast ein zwanghafter Zustand, aus dem der Betroffene kaum aus eigener Antriebskraft wieder herauskommt. Der Hyperfokus kann nicht abgebrochen werden. Der Betroffene kann zwar physisch mit der Tätigkeit aufhören, das Gehirn bearbeitet sie aber weiter.

Was bedeutet das:

Natürlich können Hyperfokus und Spezialinteresse zusammen auftreten; wenn das Spezialinteresse im Hyperfokus verfolgt wird, ist jedoch die Frage, ob das dann nicht doch eher Flow ist. Leider gibt es kaum Studien zur Unterscheidung. Die Flow-Forschung ist sehr umfangreich, mit Hyperfokus und Spezialinteressen wurde sich hingegen bis jetzt eher wenig beschäftigt. Ich würde sie jedoch wirklich klar voneinander trennen. Das, was ich beim Hyperfokus empfinde, ist kein Flow. Es ist Zwang. Zwang, der sehr belohnend sein kann, wenn man innerhalb einer Woche mehr als 50.000 Wörter runterschreibt (der 1. Harry Potter Teil hat ca. 80.000 Wörter), aber wiederum unfassbaren Stress auslösen kann, wenn man eigentlich für Klausuren lernen muss und durchs ADHS eh schon hinten dran hängt.

Ich kann jetzt nur von mir sprechen. Ich habe momentan den Hyperfokus beim Schreiben. Das ist aber nicht mein Spezialinteresse. Mein Langzeitspezialinteresse sind meine Pflanzen und mein akutes mechanische Tastaturen. Ich hatte auch mal Gaming und PCs und sowas, das hat dann von selbst aufgehört, weil ich zu geizig zum Kaufen war. Bei meinen Pflanzen habe ich keinen Hyperfokus. Bei dem Keyboard- und PC- Thema schon.
Und dann gibt es noch eine Phase, bei der ich nicht weiß, ob es vielleicht nur ein ADHS Ding ist.

Die „Ich interessiere mich für tausend Dinge gleichzeitig“ Phase:
Bei mir äußert sie sich darin, dass ich dutzende Tabs auf meinem Handy offen habe mit Dingen, die ich recherchieren möchte. Ich kann meine Aufmerksamkeit aber keine zehn Sekunden auf einer Sache halten, ohne dass mein Gehirn zur nächsten wechselt. Immer auf der Suche nach neuem Input, nach neuen Dopaminquellen, weil chronisch unterversorgt ist. Ich bin immer auf der Suche nach neuem, kann meinen Geist aber kaum auf einem Thema halten, um endlich den erwünschten Dopaminkick in Gang zu setzen.

Es ist ein Teufelskreis. Ich suche und suche und suche, weil mein Gehirn Dopamin braucht, es kann seine Aufmerksamkeit aber nicht auf einem bestimmten Thema halten, weil es zu wenig Dopamin zur Verfügung hat. Deswegen fangen ADHSler immer wieder neue Dinge an, halten nichts durch, können aber auch nicht untätig sein. Die dauernde Suche nach dem Kick resultiert bei mir im Öffnen tausender Tabs, im Kaufen von Pflanzen, weil das eine der zuverlässigsten Dopaminquellen für mich ist, im Lesen und Schreiben und im Hyperfokus, weil eben auch das Dopamin freisetzt.

Für andere ist es exzessiver Sport, feiern gehen oder von Klippen springen. Aber was uns alle eint, ist das Sensation Seeking. Diesen Begriff verbinden die meisten mit dem Hang zu Waghalsigem, aber im Grunde ist es genau das, was es aussagt. Die Suche nach Gefühlen, Sinneseindrücken und Ereignissen. Das kann alles sein und muss nicht gefährlich sein.

Ich würde denken, dass das tatsächlich eher ADHS bezogen ist und bei einer ADHS/Autismus Kombi ein ADHS-Merkmal ist, was am schwierigsten mit dem Stabilität und Kontinuität bedürftigen Autismus vereinbar ist.

Mir ist wichtig, hier die Schwierigkeit des Hyperfokus anzusprechen, denn diese wird sehr, sehr häufig nicht verstanden oder auch einfach negiert. Lang andauernder Hyperfokus ist ein gigantischer Stressfaktor, der zu geringem Selbstwertgefühl, Depressionen aber auch klassisch körperlichen Symptomen führen kann, z.B. Untergewicht, Dehydration, Verstopfung, aber auch Übergewicht aufgrund von Bewegungsmangel. Er kann Auswirkungen auf das gesamte Leben haben.

Man spürt sich selbst nicht mehr im Hyperfokus. Deswegen vergisst man auch zu essen und zu trinken und auf Toilette zu gehen.

Was bei mir dann noch dazukommt, ist die Hyperphantasie. Sie ist bei Autisten eher selten. Obwohl ich das Gefühl habe, dass sie generell selten ist. Hyperphantasie ist das Gegenteil von Aphantasie, also dem völligen Fehlen von Vorstellungskraft. Ich kann mir potenziell alles vorstellen. Außer Gesichter, weil ich gesichtsblind bin.

Ich habe den besten Streamingdienst der Welt, ich muss einfach nur die Augen schließen und ich kann mir alles vorstellen, was ich nur möchte. Wenn ich jedoch die Hyperphantasie und den Hyperfokus mische, dann liege ich für Außenstehende nichts tuend, mit geschlossenen Augen im Bett. Dabei tue ich nicht nichts. Mein Gehirn rendert gerade Welten, die sich die meisten Menschen im wahrsten Sinne des Wortes nicht vorstellen können. Es plant Dialoge, Handlungsstränge und Charakterentwicklung. Gleichzeitig verarbeitet es die momentane Weltlage und verwebt diese mit Geschehnissen in der Zukunft, so dass sie Sinn ergeben. Es macht sich Gedanken darüber, wie Außerirdische denken, versucht sich in sie hineinzuversetzen und denkt über die Unterschiede zwischen Homo Sapiens und Außerirdischem nach. Es stellt sich vor, wie es wäre, als Vermittler zwischen den Welten zu fungieren und welche Schwierigkeiten es geben könnte, an die niemand denkt.

Aber für andere tue ich nichts. Ich liege im Bett oder starre vor mich hin. Kann keiner Konversation folgen, kann nicht zuhören oder adäquat antworten. Ich kann auf gar keinen Fall Auto fahren, und egal wie viel Ritalin ich nehme, ich bin schlicht nicht zurechnungsfähig.
So habe ich übrigens mein Abitur geschrieben. Ohne Medikation. Keine Ahnung wie ich das geschafft habe, ich kann mich an vieles vor Medikation nicht erinnern. Es ist wie durch Matsch schauen.

Von Außenstehenden wird dieser Hyperfokus gerne als Faulheit gewertet. Es ist keine Faulheit, es ist die Unfähigkeit, sich von etwas unfassbar Produktivem abzuwenden. Es ist, als würde man einen Fernseher nicht ausschalten können oder ein Buch nicht weglegen. Ich habe keinen On/Off Schalter für mein Gehirn, ich bin dem ganzen ausgeliefert.

Und während es zur Schulzeit noch in Ordnung war, ist es jetzt ein Problem. Ich habe meinen Bachelor schon überzogen. Und ich ärgere mich darüber, denn in einem Jahr könnte ich theoretisch mit dem Master fertig sein.

Doch momentan, tief im Hyperfokus, kann ich mir nicht auch nur im Ansatz vorstellen, irgendwas mein Studium betreffend zu machen. Normal arbeiten. Wirklich. Unvorstellbar. Mein Gehirn weigert sich. Vor einem halben Jahr war das noch kein Problem, da hatte ich konkrete Pläne, an die ich mich jetzt kaum noch erinnern kann. In diesem halben Jahr wollte ich so ziemlich alles werden, von Spieleentwickler sein, mit einem Pflanzengeschäft selbstständig machen, bis hin zu meinem All Time Favorit: Schriftstellerin sein.

Wahrscheinlich ende ich am Ende mit einer Mischung aus allem, selbstständig, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, angestellt zu sein, aber das konnte ich tatsächlich noch nie. Allein der Gedanke an die Praktikumssuche lässt mir die Galle hochkommen. Noch dazu bin ich durch die Pandemie wirklich menschenscheu geworden und der Gedanke mit eben diesen zu arbeiten… gruselig.

Außer ich verkaufe ihnen was… das kann ich. Auch so ein verborgenes Talent, welches ich im letzten Jahr entdeckt habe.

Dieser Beitrag zeigt sehr gut, wie sehr ich ein ADHS Gehirn habe. Ich nehme hochdosiert Ritalin und trotzdem habe ich es nicht geschafft, einen roten Faden zu verfolgen. Eigentlich wollte ich nur erklären, was der Unterschied zwischen Hyperfokus und Spezialinteresse ist.

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