Autismus und Begabung

Im ICD-11 werden seit dem 1. Januar 2022 verschiedene Unterkategorien der Autismusspektrumstörung anhand Spracherwerb und kognitiver Beeinträchtigung unterschieden. Gleichzeitig hört man immer wieder von Hochbegabung vor allem im Zusammenhang mit dem Asperger-Syndrom oder Inselbegabungen. Tatsächlich ist die Beziehung zwischen Begabung und unterschiedlichen Ausprägungen der Autismusspektrumstörung sowohl faszinierend als auch häufig geprägt durch Irrglauben und vor allem durch Medien verbreitete überspitzte und verallgemeinernde Darstellungen. Das Klischee des hochbegabten Autisten findet sich vor allem in Serien wie “The good doctor” oder “Big Bang Theorie”, dessen Hauptfigur immer wieder von Fans der Serie mit Autismus in Verbindung gebracht wird. Gleichzeitig hält sich über “Rainman” hartnäckig das Gerücht des grundsätzlich inselbegabten Autisten, weshalb reale Autisten häufig nebenbei gefragt werden, was denn ihre “Inselbegabung” sei.

In der Realität sind jedoch nur wenige Autisten hochbegabt. Inselbegabungen sind sogar noch um ein Vielfaches seltener. Für Betroffene ergibt sich so die Problematik, dem gängigen gesellschaftlichen Bild nicht zu entsprechen und auch durchschnittliche und leicht überdurchschnittliche Leistungen entschuldigen zu müssen, da sie “trotz” ihrer Autismusspektrumstörung nicht hochbegabt sind. Im Gegenteil, vor allem viele Autisten des nach ICD-10 “frühkindlichen” Typus sind aus klinischer Sicht häufig kognitiv eingeschränkt, sprich minderbegabt, woraus sich eine Vielzahl weiterer Probleme ableitet. Betroffene mit besonders starken Einschränkungen in diesem Bereich sind oft ein Leben lang intensiv auf fremde Hilfe angewiesen.

Doch was ist Begabung überhaupt?

Unter einer Begabung versteht man ein angeborenes Potential, eine Fähigkeit zu erlernen. Begabung bezeichnet also nicht die Fähigkeit an sich. Ob aus einer Begabung eine Fähigkeit wird, hängt davon ab, ob die betroffene Person diese Begabung fördert und die Fähigkeit erlernt.

Ein Mensch mit einer besonderen musischen Begabung kann nicht von Geburt an Klavier spielen. Sollte er im Laufe seines Lebens jedoch mit dem Klavierspiel beginnen, wird ihm der Lernprozess meist deutlich leichter fallen als vielen anderen Menschen mit gleichem Übeverhalten. Entsprechend kann er in kürzerer Zeit deutlich bessere Ergebnisse erzielen.

Begabungen können in vielen Bereichen auftreten. Es gibt musische Begabungen, sportliche Begabungen, künstlerische Begabungen, soziale Begabungen, kognitive Begabungen und viele mehr. Das objektive Messen einer Begabung gestaltet sich sehr schwer. In Bereichen wie Sport, Kunst und Musik ist die Fähigkeit messbar, jedoch nicht die zugrunde liegende Begabung, da ein Mangel an Begabung oft durch ein Übermaß an Fleiß ausgeglichen und ein Mangel an Fleiß eine Begabung verstecken kann. Menschen, deren Fähigkeiten deutlich über ihrem Begabungsniveau liegen, werden als Hochleister bezeichnet. Menschen, die unter ihrem Potential bleiben hingegen als Minderleister. Vor allem im schulischen Zusammenhang fallen beide Begriffe besonders häufig.

Kognitive Begabung ist im Rahmen eines IQ-Tests messbar. Hierbei werden zum Beispiel logisches und mathematisches Denkvermögen, Sprachverständnis, Arbeitsgedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit und räumliches Vorstellungsvermögen anhand verschiedener Aufgaben getestet. Die Aufgaben selbst sind dabei so konzipiert, dass sie von den meisten Menschen innerhalb einer Zielgruppe problemlos lösbar sind. So beinhalten die meisten schriftlichen Tests für Erwachsene zum Beispiel einfache Dreisatzaufgaben, die von Kindern aufgrund ihres Wissenstandes in aller Regel nicht gelöst werden können. (Bsp: “Drei Traktoren brauchen für einen Acker sechs Stunden. Wie lange brauchen sechs Traktoren?”) Die Messung erfolgt anhand der Zeit, die derjenige zur Bearbeitung der jeweiligen Fragen benötigt.

Die meisten offiziellen (genormten) IQ-Tests sind auf spezifische Zielgruppen ausgelegt und messen den IQ in einem bestimmten Bereich. Ergebnisse außerhalb dieses Bereiches sind mit dem entsprechenden IQ-Test nicht zuverlässig messbar. Viele Tests existieren deshalb in mehreren Versionen, deren einziger Unterschied die zur Verfügung stehende Zeit ist. Tests mit kürzeren Zeitspannen messen hohe Werte genauer, Tests mit längeren Zeiten sind für niedrigere Werte geeigneter. Wenn der gewählte Test nicht zum tatsächlichen IQ der Person passt, können die Werte abstrus hoch oder tief ausfallen. Bei einem professionell durchgeführten Test ist das Ergebnis dann in der Regel nicht verwertbar, auch wenn es theoretische Werte liefert. Auch Lernschwächen oder ADHS können die Ergebnisse eines solchen Tests erheblich verfälschen. Prüfungsangst ist ebenso ein Faktor, der bei der Testung nicht außer Acht gelassen werden darf. Von Depressionen ist bekannt, dass sie die kognitiven Fähigkeiten negativ beeinflussen können, was sich ebenfalls auf die Testergebnisse auswirkt.

(Abb.1: ausgewogenes durchschnittliches Begabungsprofil)

IQ-Tests liefern ein sogenanntes “Begabungsprofil”. Hier werden alle getesteten Bereiche einzeln abgebildet. Dies erfolgt oft in Form eines Diagramms. Die Diagramme zeigen auf der x-Achse das jeweilige Begabungsgebiet (hier A, B, C etc.) und auf der y-Achse den gemessenen IQ-Wert an. Der Gesamt-IQ bildet sich aus dem Durchschnitt der Einzelwerte, wobei oft unterschiedliche Gewichtungen sowie das Alter der Probanden verrechnet wird.

Das Begabungsprofil der meisten Menschen bewegt sich in einem relativ kleinen Radius um ihren Mittelwert. Ein solches Profil wird als “ausgewogenes Begabungsprofil” bezeichnet. Der Mittelwert der Abb.1 ist ca. 100, was es zu einem durchschnittlichen Begabungsprofil macht.

Abb.2: ausgewogenes, hohes Begabungsprofil; “Hochbegabung”

Wenn der Mittelwert eines Begabungsprofils über 130 liegt, spricht man von einer kognitiven oder intellektuellen Hochbegabung. Aufgrund der extremen Höhe des Durchschnittswertes sind Begabungsprofile hochbegabter Menschen meist ausgewogen. Ausnahmen finden sich hier vor allem bei bekannten Teilleistungsschwächen wie Dyskalkulie, die für standardisierte Tests eine Herausforderung darstellen.

Abb.3: ausgewogenes, unterdurchschnittliches Begabungsprofil; “Minderbegabung”

Liegt der Durchschnittswert unter 85 spricht man von einer unterdurchschnittlichen Begabung. Der Bereich 70 bis 84 entspricht einer allgemeinen Lernschwäche. Ein IQ von 70 stellt die Grenze zur Intelligenzminderung/geistigen Behinderung dar.

Diese Werte sind für die ICD-11 Diagnosen 6A02.1 (“Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der intellektuellen Entwicklung und mit milder oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache”), 6A02.3 (“Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der intellektuellen Entwicklung und mit beeinträchtigter funktioneller Sprache”) und 6A02.4 (“Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der intellektuellen Entwicklung und mit Abwesenheit funktioneller Sprache”) von Bedeutung. Diese Diagnosen wurden nach ICD-10 unter F84.0, “Frühkindlicher Autismus”, zusammengefasst.

Tests in diesem Bereich sind oft anders konzipiert und nehmen auch auf die kommunikativen Fähigkeiten der Testperson Rücksicht. Es existieren eine Reihe an Testmöglichkeiten, die nicht auf verbale Sprache angewiesen sind.

Abb.4: Verteilung des IQs in der Gesamtbevölkerung

Wertet man den IQ einer genügend großen Gruppe stellvertretend für die Gesamtbevölkerung aus, ergibt sich eine Verteilungskurve. Der Mittelwert der Verteilung ist per Definition auf 100 festgelegt. 68% der Bevölkerung fallen in den Bereich zwischen 85 und 115. Dieser Bereich wird als durchschnittlich betrachtet. Damit sind über zwei Drittel der Bevölkerung durchschnittlich begabt.

Etwa ein Sechstel der Bevölkerung ist mit einem IQ von über 115 überdurchschnittlich begabt, das andere verbleibende Sechstel mit einem IQ unter 85 unterdurchschnittlich. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung sind mit einem IQ von über 130 hochbegabt. Bei ebenfalls etwa zwei Prozent der Bevölkerung spricht man aufgrund eines Durchschnitts-IQs von unter 70 von Intelligenzminderung.

Betrachtet man ausschließlich eine Teilgruppe einer Bevölkerung, kann sich der Durchschnittswert verschieben. Häufig findet sich z.B. die Aussage “bei Aspergerautisten ist der Durchschnitts-IQ leicht erhöht”. Dies ist darauf zurückzuführen, dass eine Aspergerdiagnose eine Intelligenzminderung in der Regel ausschließt. Somit wird nicht der IQ der Gemeinschaft aller Autisten betrachtet sondern nur derer mit einem IQ über (je nach Definition) 70 oder 85. Das Ergebnis ist somit im Mittel über 100, auch wenn das Mittel aller Autisten weiterhin bei 100 oder sogar tiefer liegen könnte.

Abb.5: unausgewogenes, durchschnittliches Begabungsprofil

Während die meisten Menschen über ein mehr oder weniger ausgewogenes Begabungsprofil verfügen, ist das Profil bei Autisten oft sichtbar unausgewogen. Das ist besonders schwierig für die Diagnostik, da ein einzelner Test hier unter Umständen nicht allen Begabungen gerecht werden kann. Im Mittel sind solche Profile oft durchschnittlich und unauffällig. Erst durch das Aufdröseln in die Teilaspekte der Testung wird ersichtlich, wie sich die Begabung des Betroffenen zusammensetzt.

Abb.6: Selektive Hochbegabung

Sticht in einem Teilbereich in einem ansonsten durchschnittlichen Begabungsprofil ein Wert besonders hervor, handelt es sich um eine einzelne Teil(hoch)begabung. Es ist durchaus möglich, in einzelnen Gebieten weit überdurchschnittlich begabt zu sein, während der durchschnittliche IQ im Normalbereich liegt.

Abb.7: Inselbegabung

Eine Teil(hoch)begabung bei ansonsten unterdurchschnittlichem Begabungsprofil wird als Inselbegabung bezeichnet, da die Begabung wie eine Insel aus dem restlichen Profil hervorsticht. In der Regel sind Inselbegabte abgehsehen von ihrer besonderen Begabung also meist entweder lernbehindert oder haben sogar eine offizielle Intelligenzminderung. Dies spiegelt sich auch in der veralteten englischen Bezeichnung “idiot savant” wieder, von der das heutige “Savant-Syndrom” stammt. “Savant” stammt aus dem Französischen und bedeutet “Wissender”. Das Syndrom kann sowohl angeboren als auch erworben sein. Der Erwerb geschieht meist durch schwere Verletzungen des Gehirns oder Krankheiten, die sich auf das Nervensystem der Betroffenen auswirken.

Savants werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Begabte Savants sind in einem Teilbereich durchschnittlich begabt. Erstaunliche Savants hingegen sind in einem Teilbereich weitaus höher begabt als die Durchschnittsbevölkerung. Während begabte Savants durchaus öfter vorkommen, sind erstaunliche Savants sehr selten.

Ein solcher erstaunlicher Savant war Kim Peek, das Vorbild der Hauptperson des Films “Rainman”. Obwohl sein Film-Abbild als Autist bezeichnet wird, war Kim Peek selbst kein Autist. Nur ein Teil aller Savants ist autistisch und nur die wenigsten Autisten sind Savants. Es ist fast schon ironisch, dass ausgerechnet ein nichtautistischer Savant als Vorbild des Filmes fungierte, der bis heute die allgemeine Wahrnehmung von Autismus bedeutend prägt.

Abb.8: Vergleich verschiedener Begabungsprofile

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